Samstag, 31. März 2007

Ich bin müde, Ipanema

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Ich bestellte Whiskey, es war an der Zeit. Der Whiskey vermochte meine Gedanken für den Moment einzig auf seinen intensiven Geschmack zu richten. Wasser mengte sich in meinem Rachen mit Feuer, um in meinem Bauch zu einer wohligen Wärme abzuflauen. Eine angenehme Schwere legte sich auf meine Glieder, ich versank tiefer im Samt der üppigen Polster. Während ich im Hintergrund leise die laszive Frauenstimme wahrnahm, dämmerte ich vor mich hin. Umgeben von meiner flimmernden Gedankenwelt. Alleine mit meiner Selbst. Wie oft hatte ich mich schon in mir selbst vergraben - gegrübelt, verdammt, gehofft, verloren. Wie war ich überhaupt in diese Stadt gekommen? Wie lange war es her, dass ich mein altes Leben verlassen hatte, um mich selbst zu finden, zu verwirklichen? Für einen Moment ließ ich zu, dass Sie meine Gedanken bestimmte. Doch ich hatte gelernt, nicht zu lange an Sie, an unsere einstige Verbundenheit, an längst verblichene Tage zu denken. Hätte ich dies nicht gelernt, so hätte ich schon lange am Grunde der Seine, des Tiber oder der Donau gelegen – mit einem Stein auf der Brust, unwiderstehlich und ewiglich an die Tiefe gebunden.


Ich fragte mich, ob meine Hände schon immer so rissig, so knöchern, so alt gewesen waren? Wie zwei kleine Gebirge, zerklüftet, gezeichnet. In Verbindung mit dem Whiskeyglas gaben sie aber ein passendes Bild ab. Glas, Wasser, Stein. Ich bin kein Trinker. Ich bin ein Suchender, ein Getriebener, der sich nur zu oft an kristallenen Gefäßen festgehalten hat, um wenigstens irgendeinen Halt zu haben.


Die Musik setzte aus – oder war es mein Herzschlag? Leider war es die Musik. Vielleicht für fünf Minuten, die mir wie Stunden erschienen. Es war die pure Ironie, dass mich Girl from Ipanema von der musikalischen Pause erlöste. Gerade das Mädchen aus Ipanema - mein längst vergessenes Leben. Zu viele Gedanken.


Mit aller Kraft schaffte ich es, mich aus meiner lethargischen Gedankenspinnerei zu lösen. Als ich aufblickte, hatte sich die Bar weiter geleert. Wie mein Glas. Noch einen Whiskey zum Abschluss. Niemals amerikanischen, niemals. Schottland, 18 Jahre alt, das ist meine Liga. Ich trank viel zu schnell, schaute mich weiter um, versuchte im Halbdunkel des rauchgeschwängerten Raumes, noch einen Gast zu erkennen. War das Tommy in der Ecke? Tommy Dest aus Charlotte? Nein, wie hätte er es auch sein können. Er hatte zwar seine gerötete Nase, seinen leeren Blick, er trank Hochprozentiges, er war allein – aber er war trotzdem nicht Tommy. Tommy war lange tot. Gestorben durch meine Hand. Und durch die zarten Hände eines Mädchens aus Ipanema.


Ich legte ein paar Scheine auf den Tresen, verabschiedete den Barkeeper wortlos, wühlte mich in meinen Trenchcoat und ging hinaus. Schneeflocken wehten mir sanft ins Gesicht, legten sich auf mein Haar, verfingen sich in meinem Bart. Ich muss weiter. Fragen stellen, um weiter vor mir selbst fliehen zu können. Ich bin müde, aber nicht müde genug. Dunkelheit, ich komme.


Fortsetzung