Sonntag, 15. Juli 2007

Leben heißt sterben lernen

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Arlobos Schergen! Der alte Frio hatte sie wohl nicht länger aufhalten können. Leben heißt sterben lernen hatte Tommy immer gesagt. Frios Lehrzeit war nun wahrscheinlich vorüber. Was sollte ich tun? Mir blieb nur der Ausweg, den man aus vielen Filmen kennt: Die Flucht aus dem Fenster. Schnell verstaute ich das Tape in meinem Beutel, warf ihn über die Schulter und sprang.

Zum Glück befand sich mein Zimmer im zweiten Stock, so dass ich nur etwa vier Meter tiefer in einer morastigen Pfütze landete und mich abrollen konnte. Ich befand mich in einer Art Hinterhof, der nicht sonderlich belebt war. Mein Kopf dröhnte noch immer und klares Denken fiel mir schwer. Da ich in Rio zu dieser Jahreszeit ohne Hemd bei weitem weniger auffallen würde als mit dem blutbefleckten Schlammfetzen, den ich noch an mir trug, riss ich mir hastig den Stoff vom Leib, warf ihn zur Seite und rannte los. Als ich gerade um die Häuserecke bog und im Menschenstrom der belebten Rua Paula Matos verschwand, hörte ich im Hintergrund lautes Männergebrüll aus meinem Hotelzimmer.

Nachdem ich mich ein paar Straßen entfernt und mein Puls sich wieder etwas erholt hatte, kreisten meine Gedanken nur um zwei Dinge: Isabel, die Arlobo in seiner Gewalt hatte und das Tape, das ich mit mir trug. Arlobo würde Isabel erstmal nicht töten - jetzt wo ich mit dem Tape entkommen war. Bei dem Gedanken, was er ihr jedoch sonst so antun könnte, wurde ich beinahe wahnsinnig. Doch in diesem Moment konnte ich nichts für sie tun, nicht in meinem Zustand und nicht ohne Hilfe. Wie hatte Arlobo sie nur gefunden?

Zuerst musste ich mir das Videoband ansehen, das über Leben und Tod entscheiden konnte. Ich musste überprüfen, ob es die Szenen zeigte, die ich glaubte, darauf entdecken zu können. Tommy hatte damals gewusst, wie wichtig solch ein Dokument einmal sein könnte. Er hatte es gewusst – und dafür mit dem Leben bezahlt!

Doch dafür brauchte ich einen absolut sicheren Platz; und Menschen, die bescheid wussten über mein früheres Leben, denen ich absolut vertrauen konnte. Schlagartig fielen mir zwei alte Weggefährten ein – die ich zu ihrem Schutz eigentlich niemals wieder kontaktieren wollte. Doch nun waren sie meine einzige Rettung.

Ich musste nach Süden. Jenseits des Morro da Nova Cintra in einem der besseren Viertel der Stadt lag die Rua Campo Belo, lag meine Hoffnung.

Knapp zwei Stunden später erreichte ich das weiße Haus am Hang, in dem ich früher so viele schöne Stunden verbracht hatte. Palmen und ein Meer von lila Blüten umrandeten das Gebäude - wieder so viele Erinnerungen. Ich drückte auf den schwarzen Knopf an der Haustür und der hohe, leicht scheppernde Ton der Klingel warf mich gedanklich beinahe 20 Jahre zurück. Ein älterer schlanker Mann erschien an der Tür. Sein langes graues, beinahe weißes Haar hatte er zu einem Pferdeschwanz gebunden. In seinem weißen Leinenhemd, der beigen Leinenhose und den schwarzen Ledersandalen sah er sehr gepflegt und kultiviert aus. „Guten Tag, was führt Sie zu mir?“, fragte er kritisch. Er schien mich nicht gleich zu erkennen. Ich erkannte ihn jedoch spätestens an seiner weichen Stimme und seinen sanften Handbewegungen: meinen alten Freund Pepe. „Ich bin es – Syd! Ich brauche dringend eure Hilfe, Pepe.“ Seine braunen Augen wurden größer, doch er zweifelte an der Wahrheit meiner Worte. „Syd? Ich kannte mal jemanden, der so hieß. Hmm. Aber das ist lange her. Sie haben seine Stimme, ja. Aber Sie sind viel dünner als er und haben kaum Haare auf dem Kopf und im Gesicht. Syd hatte lange braune Locken und einen Vollbart.“

Er musterte mich weiter kritisch von oben bis unten. Nach längerer Pause sagte er: „Wenn Sie der sind, der Sie vorgeben zu sein, dann sagen Sie mir doch mit welcher Frage ich Sie damals im Sommer ´85 an der Avenida Atlântica zum Lachen gebracht habe?“ Ach der gute Pepe! Eigentlich klar, dass er mir diese Frage stellte. Der Abend damals war wirklich unvergesslich gewesen und wir hatten später oft darüber gelacht. Mit einem Schmunzeln auf den Lippen antwortete ich ihm: „ Do you want to come into my bar to check out some gays?“ Schlagartig wich jeglicher Zweifel aus Pepes Gesicht und er breitete lachend seine Arme aus: “Syd, du bist es wirklich! Das ist alles schon so lange her, entschuldige bitte meine Zweifel!“ Nach kurzer heftiger Umarmung zog er mich zur Tür herein und rief: „Ed, Eeeeed! Komm schnell! Unser alter Freund Syd ist zurückgekehrt! Der alte Kamerad von Ed Cetêra und Pepe, welch Freude. Eeeeed!“

Ja, ich bin zurückgekehrt. Doch die Zeit verrinnt mir zwischen den rissigen Händen. Isabel, Arlobo, Rio – Leben heißt sterben lernen.

Fortsetzung