.Das Rad der Zeit dreht niemand mehr zurück. Es ist ein Zahnrad, dessen Zähne unerbittlich an uns nagen. Sobald ein Mann den im Grunde doch so simplen Lauf der Welt verstanden hat, mixt er aus Trotz, Ironie, Sarkasmus und dem unerschütterlichen Glauben an echte Männerfreundschaft einen bittersüßen Drink, mit dem er dem Leben die Stirn bietet. Vor mir stand die Zutat, die mir in den letzten Jahren gefehlt hatte.
Während Pepe durch die angenehme Kühle der Casa Branca wirbelte, stürmte Ed heran, stieß einen Urschrei aus und hieb mir freudestrahlend die Schulterblätter zu Brei. „Syd, du alte Sahnebutterhupfdohle! Leck mich, siehst du scheiße aus!“ Ich blickte zu ihm auf und verzog den Mund zu einem breiten, schiefen Grinsen, wodurch meine Lippe erneut aufriss, ein Blutstropfen über mein Kinn kullerte und auf die nackte Brust tropfte, was ich mit einem tiefen, kehligen Lachen quittierte.
Ed, ganz der Alte, durch und durch Lebemann mit jugendlich blondiertem, halblangem Haar, perfekter Bräune, großer Gestik und weißem Seidenhemd über den kunstvoll zerrissenen Armani-Jeans, stutze für einen Moment. Mit halb geöffnetem Mund starrte er mich aus großen Augen an und packte mich bei den Schultern. Dann stimmte er zunächst ungläubig, kurz darauf schallend in mein Gelächter ein. Pepe, schon immer der Besonnenere von beiden, hatte inzwischen Begriffen, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Er zog mich sanft beiseite, warf mir ein graues T-Shirt zu und schob mich auf die blumengesäumte Terrasse. „Syd“, sagte er ruhig, „setz dich, nimm dir Wasser, Brot und Wein. Dann erzählst du uns die ganze Geschichte.“
Die erste Flasche Chianti aus dem Anbau von Marchese Antinori wurde entkorkt, ich begann zu erzählen. Paris, die Bar Suffren, das Mädchen von Ipanema und mein Entschluss, dass es nun an der Zeit sei. Der Rotwein lockerte meine Zunge. Der Flughafen, die Nachricht an Isabel – zwei staunende Zuhörer in Pepe und Ed Cetêra, der gerade die zweite Flasche entkorken wollte, als der Name Pierre Coqétait fiel. Ed entgleiste das Gesicht, während er den Korken unkontrolliert aus der Flasche riss und sein Seidenhemd besudelte. Wir mussten die Zeit gar nicht zurückdrehen, die Vergangenheit holte uns ein.
„Ich weiß beim besten Willen nicht, wie Arlobo an die Postkarte kommen konnte“, sagte ich, während ich nachdenklich den tiefroten Wein in meinem Glas schwenkte. Ed Cetêra und Pepe sahen mich an. Es stand außer Frage, dass sie mir von nun an zur Seite stehen würden. „Merkwürdig“, brummte Pepe bedächtig. „Als ich Isabel vor zwei Monaten einen Brief geschickt habe, kam er drei Wochen später mit dem Vermerk ‚Empfänger unbekannt verzogen’ zurück.“ In meinem Kopf hämmerte es. „Wir haben Isabel“, hatte Coqétait gesagt. Konnte das sein? Ich hatte geglaubt, in Berlin sei sie sicher.
Sie hatte eine Affäre mit einem verheirateten Politiker begonnen, gleichsam aus ihrem verhängnisvollen Trieb, auf der Rasierklinge zu tanzen, wie aus der Suche nach Schutz. Es war eine Flucht in die Öffentlichkeit, da sie die Liebschaft geschickt in den Medien lancierte. Ihr Verschwinden könnte doch nicht unbemerkt geblieben sein. Oder konnte es doch? Irgendwas war da. Meine Hand krampfte sich um das Glas, während ich angestrengt nachdachte. Langsam brannte sich ein Bild in mein Hirn. Arlobos Hand, der seidene Faden mit dem silbernen Pendel. „Das Amulett!“, schrie ich und sprang zitternd auf. „Was? Wovon redest du?“, riefen Ed und Pepe durcheinander. „Wie konnte ich nur so schwer von Begriff sein! Das Pendel in Arlobos Hand – das war Isabels Amulett, die silberne Nussschale, ohne die sie nie aus dem Haus gegangen ist.“ Er hatte mir damit vor der Nase herumgewedelt und ich hatte nichts begriffen.
„Sie haben sie also wirklich“, stöhnte Pepe, „aber woher hatten sie die Postkarte?“ Ed stürzte den Wein hinunter und gurgelte hervor: „Du wirst beschattet worden sein. Denk mal nach, war da was in Paris?“ Ich dachte nach. Der Mann in der Bar, den ich für Tommy hielt, sein leerer Blick, der auf mir haftete – war er nicht kurz nach mir aus dem Hilton gewankt und hatte die gleiche Richtung eingeschlagen? Und am Flughafen… der schlafende Anzugträger, der in meinem Traum lachend vor mir stand… ja, unmöglich war es nicht. „Wenn der Kerl am Flughafen beobachtet hat, wie du der Air-France-Tussi die Karte gegeben hast, wird Coqétait sie ihr abgeschwatzt haben“, brachte Ed die Dinge auf den Punkt. Dank ihm sah ich nun klar, was die Vergangenheit betraf.
Pepe dachte, wie gewöhnlich, schon einen Schritt weiter: „Halten wir das Positive fest: Du lebst, bist bei uns und hast das Tape. Solange das der Fall ist, werden sie Isabel nichts tun.“ „Außerdem“, fügte er bedächtig hinzu, „muss Isabel in Brasilien sein. Sie muss die Karte gesehen und es irgendwie geschafft haben, dir die Botschaft zu schicken.“ Pepe hatte Recht, in mir keimte wieder Hoffnung. Ich kramte das Video, eine Super8-Kassette, aus meinem Beutel und legte es zitternd auf den Tisch. „Scheiße, das ist auch nicht mehr Stand der Technik“, raunte Ed, „aber irgendwo im Keller habe ich noch so’n Adapter, damit können wir uns den Streifen reinziehen.“
Der Timecode auf dem Display des Videorekorders im spartanisch eingerichteten Wohnzimmer der Casa raste rückwärts, immer schneller, mein Herz raste mit. Sieht so aus, als könnten wir die Zeit doch zurückdrehen. Bei 19:54 blieb das Band stehen und Ed, der vor dem Gerät kniete, blickte fragend zu mir auf. „Lass laufen“, beschied ich und nahm einen guten Schluck Wein aus der Flasche. Scheiße, dachte ich, dass du die Vergangenheit nicht nüchtern erträgst. Irgendwas hast du falsch gemacht.
Auf dem Bildschirm baute sich zunächst verschwommen, dann immer klarer ein Bild auf. Es war ein Haus zu sehen, dass unmöglich in Brasilien stehen konnte. Weiß getüncht, sauber, und an den Ecken sowie den Fenstern mit leuchtend rotem Sandstein geschmückt. In der rechten, unteren Ecke war das Datum eingeblendet: 13.06.92 stand da zu lesen. Eine Gruppe junger, offenbar paramilitärisch organisierter Menschen hielt im Stechschritt auf das Portal zu. Umschnitt. Nun war das Portal von nahem zu sehen.
Es war protzig, von zwei Säulen flankiert - das roch nach Arlobo. Der legte von jeher großen Wert auf solche Dinge. Das Portal muss passen, pflegte er zu sagen. Im Bild war eine schwere Holztür zu erkennen, umrahmt von einem Bogen, den in goldenen Lettern die Inschrift domus universitatis zierte. Darunter war die arabische Zahl 1801 eingemeißelt. Mein Blick fiel auf den Timecode. Als die Inschrift ins Bild kam, sprang die Anzeige auf 20:45. Ich prägte mir die beiden Worte und die Zahl gut ein. Das Bild auf dem Fernseher zerfiel zu einem wüsten Flimmern. Ratlos starrten mich Ed und Pepe an. „Mensch, von Tommy hatte ich nicht viel erwartet, aber bitte: was soll dieser Mist?“, blaffte Ed. „Sei ruhig, ich glaub’ es geht noch weiter“, fuhr Pepe dazwischen.
Tatsächlich, nun war Tommy mit der Kamera im Gebäude. Er torkelte durch die Gänge und stolperte in ein Büro. Arlobos Büro, wie das Bild seiner Tochter an der Wand zweifelsfrei belegte. Tommy schlurfte um den Tisch und ließ sich schwer in den Sessel fallen. Er legte die Kamera auf den Tisch, um sich eine Zigarette anzuzünden, wie die Geräuschkulisse vermuten ließ. Im Bild war, nun hochkant, da die Kamera auf der Seite lag, eine Flasche Meister Proper zu sehen. „Ha, der alte Saubermann!“, entfuhr es mir grimmig.
Tommy blies geräuschvoll Rauch in den Raum und nahm die Kamera wieder in die Hand. Er zog die oberste Schublade auf und wühlte darin. Was zum Vorschein kam, ließ uns laut auflachen. Es war der Etikettentwurf für ein Reinigungsmittel: „Semisis – strahlender Glanz“ war darauf zu lesen. Darüber prangte, zur Comicfigur stilisiert, Arlobos Ebenbild in typischer Pose. Die Arme hinter dem Kopf verschränkt und selbstvergessen grinsend. Wir konnten kaum noch an uns halten, doch unser Lachen erstarb, als Tommy die Entwürfe beiseite schob.
Darunter fanden sich Pläne des Atommülllagers in Gorleben. Darunter wiederum ein chemisches Periodensystem und verschiedene Umweltzertifikate: EMAS und DIN EN ISO 14.001, ausgestellt auf die Arlobo Semisis GmbH. „Was soll das werden?“, fragte Pepe mit immer besorgterer Miene. Nun war auf dem Video deutlich Tommys Stimme zu vernehmen. „Niemals, Arlobo, niemals“, stammelte er. Dann legte er die Kamera auf dem Boden hinter der Mülltonne ab, nun war nur noch die Wand zu sehen. Tommy war immer noch am Schreibtisch zugange. Nach einigen Momenten schien er gefunden zu haben, wonach er suchte. „Da isser ja“, hörte man ihn triumphieren, „wolln doch mal sehn’, wie Arlobo die Nummer ohne das Teil durchziehn will. Und Tschühüs!“ Tommy schlappte aus dem Raum, die Kamera schien er vergessen zu haben. Sie lief weiter, doch es war nur die Wand zu sehen.
„Werdet ihr aus der Show schlau?“, fragte Ed und schaute uns ratlos an. „Bisher noch nicht“, gab ich zu. „Fassen wir doch mal zusammen“, sagte Pepe. „Wir haben Einen Bekloppten, der sein Bild auf einen Universalreiniger druckt der sich Semisis nennt. Dazu Umweltprüfzeichen, ein Periodensystem und Gorleben, ein deutsches Atommülllager. Das ist alles. Was soll das?“
„Nein“, widersprach ich, „das ist noch nicht ganz alles. Ich glaube, Tommy hat uns einen Hinweis gegeben. Gebt mir mal schnell was zu schreiben.“ Pepe reichte mir Stift und Papier, und ich notierte: domus universitatis 1801. „Das, Freunde, war bei dem Timecode, den Tommy notiert hatte, zu sehen“, sagte ich. „Du meinst, darin ist eine Nachricht versteckt?“, fragte Pepe ahnungsvoll. „Ja, das glaube ich. Das Portal enthält eine Botschaft. Arlobo hat der Welt immer was mitzuteilen.“ „Semisis steckt da auf jeden Fall drin“, sekundierte Pepe, während Ed sich ungläubig über den Stoppelbart strich. „Was hat das ganze mit Atommüll zu tun, das ist doch Schwachsinn“, brummte er. „Uran!“, schrie ich, „nein, schlimmer, Urantod!“ Ich schrieb hastig ‚Semisis ist Urantod’ nieder. „Hör auf zu spinnen, Syd. Das passt doch vorne und hinten nicht. Was soll dann UV1801 bedeuten?“, sagte Pepe skeptisch.
„Pepe, besorg mir ein Periodensystem“, flüsterte ich. „Ich mach das, spinnt ihr mal weiter“, seufzte Ed. Pepe sah mich an, wir tranken schweigend. Kurz darauf kam Ed mit einem zerfledderten Chemiebuch angetrabt. Wir beugten uns zu dritt über die Elemententafel. „Okay, U ist Uran“, sagte Pepe, „aber was soll die Zahl bedeuten?“. „U ist auch die Atommasse“, gab ich zu bedenken. „Gibt es ein Element mit der Masse 1801?“ Unsere Augen wanderten über die Felder. „Da, das B-Dings da, was ist das denn für ein Element, das hat die Masse 18,01. Ist das was?“, murmelte Ed vor sich hin. „Keine Ahnung was es ist, aber es ist das fünfte Element. Damit wäre das V die lateinische Fünf, das könnte passen“, meinte Pepe. „Schlag das mal nach“, sagte er in meine Richtung nickend.
Ich blätterte, während die beiden gespannt schwiegen. „Es ist Borax“, sagte ich, „hier steht: Borax (oder Natriumtetraborat), chemische Verbindung mit der Formel Na2B4O7 · 10 H2O. Borax löst sich leicht in Wasser auf. Es bildet eine basische, antiseptische Lösung, die als Desinfektions- und Reinigungsmittel sowie als Weichmacher für Wasser verwendet wird.“
Ich blickte Pepe und Ed fest in die Augen, schluckte und sagte mit brüchiger Stimme: „Freunde, ich glaube, der Wahnsinnige hatte vor, ein billiges Reinigungsmittel radioaktiv zu verseuchen. Das will er immer noch. Wenn Tommy nicht gewesen wäre…“ Weiter kam ich nicht, wir fuhren alle drei wie vom Blitz getroffen zusammen. Arlobos dröhnendes Lachen erfüllte den Raum. Das Video war unbeachtet weitergelaufen. Zu sehen war immer noch nur die Wand, aber Arlobos Stimme war deutlich zu hören. Er hatte mit einer zweiten Person den Raum betreten und setzte zum Monolog an.
Die Sache mit Tommy und Arese gefällt mir ganz und gar nicht. Er hat einen schlechten Einfluss auf sie, sie wird aufmüpfig. Und misstrauisch. Das wird ihr nicht gut bekommen. Mehrfach habe ich ihr angeboten, für unsere Sache zu arbeiten. Aber wenn ich das richtig sehe – wieder dieses selbstgefällige Lachen – hat sie von dieser Möglichkeit leider keinen Gebrauch gemacht. Im Gegenteil, sie hetzt nur Tommy weiter auf, der beginnt auch schon zu schnüffeln, steckt seinen Trinkerzinken in Angelegenheiten, die ihn nichts angehen. Das geht zu weit. Wir werden Arese auslöschen müssen. Das wird auch Tommy eine Lehre sein. Im Hintergrund kicherte kaum hörbar eine Frau. Und wenn es ihm keine Lehre ist, dann schaut er sich auch bald die Radieschen von unten an.