Donnerstag, 17. Mai 2007

Du musst verschwinden, Syd!

Ich erwachte auf dem Bett meines Hotelzimmers. Mein Puls raste. Ich atmete hechelnd durch den Mund und fühlte mich elend und durstig. Die Poren auf meiner Stirn waren weit geöffnet. Sie förderten erbsengroße Tropfen salziger Flüssigkeit an die Oberfläche, die sich zu Rinnsalen vereinten und an meinen Schläfen und Wangen hinabflossen. Du musst aufstehen und verschwinden, Syd! hörte ich eine vertraute Stimme in meinem Kopf. Für einen Moment hatte ich alles vergessen. War das der Schock? Wie gelähmt lag ich auf dem Laken, das sich gierig mit meinem Schweiß vollsog. Arlobo. Coqétait. Hatte ich das alles nur geträumt? Ich richtete mich auf. Der Koffer war verschwunden und ich erschrak. Doch dann sah ich den Inhalt des Bankschließfachs auf dem Tisch liegen und war erleichtert. Du musst verschwinden, Syd!


Vorsichtig setzte ich meine Beine auf den Boden und stand auf. Ich taumelte hinüber zum Tisch und ließ mich auf einen der türkisen Plastikstühle fallen. Mein Blick fiel in den zersplitterten Spiegel an der Wand. Mein weißes Hemd war mit Blut besudelt, die Ärmel waren zerrissen und die drei oberen Knöpfe fehlten. Jetzt spürte ich den Schmerz in meinen Lippen und bemerkte, dass ich vor Aufregung noch immer auf ihnen kaute. Frisches Blut lief an meinem Kinn herunter und tropfte auf das Hemd. Mein Gesicht war kreidebleich und meine Atmung rasselte noch immer. Solltest wirklich mit dem Rauchen aufhören, Syd! hörte ich die Stimme. Langsam bahnte sich die Erinnerung ihren Weg durch ein Gestrüpp aus Verwirrungen in meinem Kopf.


„Ha'm viele Jahre auf Sie gewartet“, hatte der bullige Typ hinter dem massiven Schreibtisch gemurmelt, während er sich eine Zigarette ansteckte. Er nahm einen tiefen Zug und paffte „n'da hatte de' alte Tommy doch recht“ heraus. „Ha'm nie g'glaubt, das Sie wirklich auftauchen würden.“ Wie Klavierkadenzen über einer sizilianischen Stadt waberten Rauchschwaden durch das dunkle Büro. Stille. Ich sagte nichts und lauschte dem leisen Rascheln und Kräuseln des verglühenden Tabaks, lauschte dem saugenden Inhalieren und dem pustenden Exhalieren der Gestalt hinter dem Schreibtisch. Sie drückte die Zigarette in einem überquellenden Aschenbecher aus und steckte so gleich eine neue an. Fast beiläufig streifte mein Blick das Schild auf dem Schreibtisch, das ihn als Director di Banco Fiat auswies. Zehn große weiße Buchstaben verrieten seinen Namen: Tony Ressid.


„Bringen Sie mich jetzt bitte zu dem Schließfach“, stieß ich ungeduldig hervor. Misstrauisch kniff Ressid die Augen zusammen und bließ mir Rauch ins Gesicht. „Un' was is' mit den beiden Vögeln, die Sie mitgebracht ha'm?“ Ich schwieg. Es vergingen zwei nicht enden wollende Minuten. „Na dann woll'n wir mal“, schnaubte Ressid und führte ein brennendes Streichholz an die nächste Zigarette. „Ich hoffe, Sie ha'm die Kombination und den Schlüssel“, ächzte Ressid mit einer Spur von Überlegenheit in seiner Stimme. Ich öffnete meinen Koffer und zog den Umschlag unter dem Futter hervor. Lange hatte ich auf diesen Moment gewartet. Ich ging die Zahlenkombination im Kopf durch: 1-2-0-6-7-8 und glitt mit meiner Hand in den Umschlag. Mein Zeigefinger fühlte den gezackten Bart eines kleinen Schlüssels.


...Du musst verschwinden, Syd! hörte ich die Stimme. Gepackt von der Gewissheit, in welcher Gefahr ich mich befand, sprang ich vom Tisch auf, wischte mir mit einem Handtuch den Schweiß und das Blut aus dem Gesicht und zog das Hemd aus. Ich warf alle meine Sachen aufs Bett und überlegte, wie ich sie transportieren konnte. In den zehn Tagen, die ich in Rio verbracht hatte, hatte sich einiges angesammelt. Ich zog die Karte mit dem Louvre-Motiv aus meiner Hosentasche und dachte an Isabel. Verschwinde, du kannst ihr jetzt nicht helfen, Syd!


Wir haben Isabel“, hatte Coqétait gekläfft, der den großen dunklen Wagen, ein deutsches Fabrikat mit dem Motiv von vier ineinander verschlungenen Ringen auf der Motorhaube, von der Rua Carneiro de Campos in die Rua Cabrita steuerte. „Und du weißt, was wir mit ihr machen, wenn du nicht parierst.“ Während Coqétait die Worte genüsslich wiederholte, schob Arlobo seine Zunge in den rechten unteren Winkel seiner Unterlippe, nickte und grinste verschmitzt. Er saß mit mir auf der Rückbank und bedrohte mich mit einem Revolver, den er in seiner rechten Hand hielt. Mit seiner Linken umklammerte er das Pendel. Wir hielten vor der Banco Fiat. „Und keine faulen Tricks“, stieß Arlobo hervor, als wir aus dem Wagen stiegen.


Wir betraten die Bank, deren Klimaanlagen gute Arbeit leisteten. Wir liefen auf einen Mann mit leicht gräulichen halblangen Haaren zu, dessen Gesicht mir bekannt vorkam. „Sie sollten sich wärmer anziehen, Syd!“, hörte ich ihn einem Bankangestellten zumurmeln. „Es ist kühl hier, Sie erkälten sich noch.“ „Ich hoffe, Sie haben sich bei uns wohl gefühlt, Syd!“, verabschiedete er einen Kunden. Sein unentwegtes Reden machte ihn sympathisch. Ich erkannte seine Stimmte und als wir uns anblickten, wusste ich, dass Tommy für alle Eventualitäten vorgesorgt hatte. Vor mir stand Jacobo Frio. Als sich unsere Blicke trafen, stockte sein Redeschwall für einen Moment. Ein Lächeln huschte über seine Lippen. „Meine Herren!“, sagte er freundlich. „Was kann ich für Sie tun?“ Ich erwähnte das Schließfach. „Folgen Sie mir bitte, ich muss Sie beim Direktor anmelden.“ An einem Flur, der eine lange Biegung nach links machte, stoppte er. „Tut mir leid, die Vorschriften unserer Bank sehen vor, das maximal eine Person zum Direktor darf.“ Arlobo schaute mich an. Lautlos formten seine Lippen nur ein Wort: „Isabel“. „Kommen Sie, Syd!“, sagte Jacobo Frio zu mir. Wir gingen den Gang hinunter. Frio war ungewöhnlich still. Als wir vor dem Büro vom Direktor standen sagte er: „Ich werde mich um sie kümmern. Aber lang kann ich sie nicht aufhalten.“ Er blickte mir lang in die Augen. Dann sagte er: „Du musst verschwinden, Syd!“


...Ich räumte alle wichtigen Dinge vom Bett in einen Beutel. Nur den Umschlag aus dem Schließfach ließ ich auf dem Tisch liegen. Ich setzte mich und nahm ihn zitternd in die Hand. Er war ausgebleicht und fühlte sich stumpf an. Tommy hatte ihn zusätzlich mit Klebeband verschlossen. Vorsichtig riss ich den Umschlag an einer Seite ein und ließ den Inhalt in meine linke Hand gleiten. Ich lächelte zufrieden. Auf dem Objekt erkannte ich Tommys Handschrift. Seine zerfurchten Finger hatten Sechs Zeichen geschrieben: TC 20:45. Ich hielt ein Tape in den Händen, das mich 15 Jahre in die Vergangenheit reißen würde. Doch es würde alles beweisen. Vorsichtig schob ich das Tape zurück in den Umschlag. Ich dachte an Isabel. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät. Plötzlich hämmerte es an die Zimmertür. Du musst verschwinden, Syd!


Fortsetzung


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