
Sollte es also wirklich so kommen? Es zu glauben viel mir wirklich schwer. Gabriela, die ich mal in einer Berliner Kneipe kennengelernt hatte, und die ihr Geld nebenher mit wildem Wahrsagen verdiente, hatte mir mal erzählt, im Spätherbst 2008 würde sich mein Leben ordnen. Nicht dass ich auch nur einen Cent auf solche Geschichten gegeben hätte, aber aus dem Kopf bekam ich die Spinnerei trotzdem nicht. Spätherbst 2008, das waren noch anderthalb Jahre, auf einmal zweifelte ich an meinem ganzen Unterfangen. Was wollte ich überhaupt hier in Rio, war ich vielleicht viel zu früh gekommen?
Obwohl ich wusste, dass Nostalgie nur selten der richtige Weg ist, tippten meine Finger fast automatisch: www.livetheworld.de. Mein alter Blog aus den guten, naja sagen wir den besseren Tagen. Ziellos klickte ich mich durch die Fotos aus Malaysia, Japan und Indonesien. Strahlende Sonne. Grinsende Gesichter. Von den Menschen und Gebäuden springt mich die Leichtigkeit des Lebens an. In diesen Fotos wohnt das Glück. Auf der anderen Seite der Welt. Tommy und Arese neben mir, hinter uns die untergehenden Sonne. Sowohl geographisch als auch emotional hätte ich nicht weiter entfernt sein können.
Das zieht mich ja doch nur runter, dachte ich und riss mich aus den Gedanken an die Vergangenheit. Alles ist immer Vergangenheit. Wenn die Zukunft uns doch nur so klar erscheinen könnte wie das, was schon war. Man wäre glücklicher. Wäre man glücklicher? Tommy hätte jetzt gesagt: „Mensch, Vergangenheit, Zukunft, du lebst jetzt, Junge, da musst du mal drauf klar kommen.“
Jetzt. Alles klar. 1-2-0-6-7-8. Irgendwas klingelte, wo hatte ich das schon mal gehört? Ich erinnerte mich nicht. Ich brauchte einen Plan, soviel war klar. Das Problem dabei war, dass, wenn immer ich mir einen zurecht legte, mein Leben meist exakt die Gegenrichtung genommen hatte. Vielleicht sollte ich planen, dass doch noch alles schief geht. War ich überhaupt in der Position, die nächsten Schritte zu bestimmen? Eigentlich war klar, was ich zu tun hatte. Ich musste das Schließfach suchen. Doch irgendetwas ließ mich zögern. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ich direkt in die Rua Cabrita gegangen wär und mir geholt hätte, was ich glaubte, verdient zu haben.
Ich gab dem Barkeeper im Café ein großzügiges Trinkgeld. Man kann sich nie genug Freunde schaffen, du brauchst sie immer irgendwann. Noch so eine Weisheit. Richte dein Leben nie an Weisheiten aus, das geht eh nur schief. Na herrlich. Auf der Straße erdrückte mich der stickige südamerikanische Nachmittag. Während ich durch die Straßen wandelte, tauchte aus meiner Erinnerung langsam wieder die Orientierung hoch. Es zog mich zu meinem alten Lieblingsplatz. Genau das richtige um den Kopf frei zu kriegen. Der „Playa de San Conrado“, gleich neben dem Strand von Ipanema, doch bei weitem nicht so überlaufen.
An der Straßenecke konnte ich nicht widerstehen und kaufte ich mir ein Pack Hollywood, die brasilianischen Zigaretten, die ich damals schon immer geraucht hatte. War es wirklich gut, in die alten Muster zu verfallen? Das hatte mich doch schon mal alles an den Abgrund geführt. Doch ich fühlte mich in Siegesstimmung.
Kurz kontrollierte ich, ob der Zettel, auf dem ich den Code notiert hatte, noch in meiner rechten Hosentasche steckte. Eigentlich hätte ich ihn wegschmeißen können. Diese Zahlen sollte ich nie wieder vergessen. 1-2-0-6-7-8. Wie zur Warnung schmerzte plötzlich die Narbe an meiner rechten Seite, 13 Zentimeter, vom Becken bis hoch zu den Rippen. Ich versuchte die Bilder an damals zu verdrängen. Das waren andere Zeiten. Jetzt war alles anders. War es das wirklich?
Der Sand fühlte sich gut an. Ich ließ mein Schritte schleifen, der Ort entfachte seine gewünschte Wirkung, ein Gefühl von Freiheit schlich von meinen Zehen hoch. Ich genoss das Wellenrauschen. Wie von einer fremden Hand geleitet zog es mich zu dem kleinen Plateau am Ende des Strandes, zu den Schachspielern.
Schach. Das Spiel beruhigte meinen Sinne. Auf dem Plateau waren einige kleine Tische aufgestellt, im Schatten der großen Palmen trafen sich vor allem Einheimische. 64 Felder, enge Grenzen, und gleichzeitig grenzenlose Freiheit. Das Schachspiel hatte es schon immer geschafft, meinen Kopf freizuschalten von der Schlacke des Alltags. A bis H, 1 bis 8. Hier war es sinnlos, nach weiteren Bedeutungen zu suchen. E5 war E5, nichts anderes. Für mich, der ich immer nach der zweiten Erklärung, dem Verborgenen im Offensichtlichen suchte, bedeutete dies einen wohligen Rückzug in die Eindeutigkeit.
Ich ging an einen Tisch, der recht wenig Zuschauer um sich geschart hatte. Später habe ich nie verstanden, wieso ich mich ausgerechnet hierzu gesellte. Ich suchte mir einen bequemen Schattenplatz, den Koffer stellte ich neben meinem rechte Fuß ab.
Die beiden Spieler hätten unterschiedlicher nicht sein können. Der eine, behaart wie ein Bär, das bunte Hemd tiefaufgeknöpft. Der Schweiß lief ihm herunter, das gestickte Taschentuch, mit dem er sich trocken zu halten versuchte, half nicht viel. Er konnte keine zehn Sekunden still sitzen, rutschte ständig von links nach rechts, kommentierte jeden Zug triumphierend (seine eigenen) beziehungsweise verächtlich (die des Gegners). Jedoch stand er klar auf Niederlage, die Partie konnte nicht mehr besonders lange dauern. Der designierte Gewinner, ein älterer Herr im weißen Leinenanzug, hockte stoisch vor dem Brett. Einen breitkrempigen Hut hatte er weit ins Gesicht gezogen, so dass ich sein Gesicht nicht erkennen konnte. Nichts bewegte sich an ihm, abgesehen von der rechten Hand, wenn sie, um einen Zug zu tätigen, in einer gemächlichen Bewegung nach hervor kam. Und dem Pendel in seiner Linken, ein kleiner silberner Gegenstand an einem seidenen Faden. Es war, als wolle er das Spiel beschwören, die Figuren zu seinen Gunsten betören.
Wenige Züge später setzte der Pendler den Bären Matt, dieser sprang mit einem Schnaufen auf, und zog leise schimpfend von dannen. Sein Gegenüber blieb sitzen, hielt den Kopf immer noch gesenkt. Ich konnte den Blick nicht von ihm wenden, kurz durchzuckte mich der Gedanke, dass ich diesen Mann kannte. Mit der rechten Hand glitt er in sein Jacket und holte etwas aus der Innentasche hervor. Eine Postkarte. Ich erkannte den Louvre auf der Karte und erstarrte.
Er blickte auf: „Wissen Sie, wo ich dies her habe?“, fragte er mir direkt ins Gesicht und platzierte die Karte mitten auf dem Schachbrett. Unsere Augen trafen sich. Wie war das möglich? „Ich habe Ihnen eine Frage gestellt.“ Vor mir saß Arlobo. Ich hatte ihn seit bestimmt 15 Jahren nicht mehr gesehen. „Ich habe Ihnen eine Frage gestellt“, wiederholte er.
Mein Mund wurde trocken, ich konnte nicht antworten. „Ich...“, fing ich an, doch meine Stimme versagte. Zu viele Fragen stoben durch meinen Kopf? Wie hatte Arlobo mich hier gefunden? Wie kam er an die Postkarte? Was war mit Isabel? Unmerklich hatte es sich um uns herum geleert, wir schienen allein zu sein auf dem Plateau.
„Trocken machen solche Übungen doch gar keinen Sinn“, ertönte eine zweite Stimme hinter meinem Rücken. Die Worte trafen mich wie einen weiteren Nackenschlag. Einer von Tommys Paradesprüchen. Zögernd drehte ich mich um. Hinter mir stand, feixend über das ganze Gesicht, Coqétait. In der einen Hand hielt er eine Flasche billigen Caipirinha aus dem Supermarkt.. Diebisch freute er sich über den augenscheinlichen Schrecken in meinen Augen. In der anderen Hand hielt er meinen Koffer.
„Alter Freund, schön dich zu sehen“, prostete er mir zu, und nahm eine tiefen Schluck aus der Flasche, „hey, was guckst du so verdeppert, Arlobo hat dir eine Frage gestellt, und du weißt, dass er nicht gerne lange auf Antworten wartet.“
Ich drehte mich wieder um. „ Ich..., ich meine, wie..., woher haben sie diese Karte?“
„Das habe ich Sie doch eben gerade gefragt“, brummte Arlobo. Er hatte wenig an seiner Haltung geändert, saß immer noch zusammengesunken vor dem Schachbrett, „aber ich sage es Ihnen. Doch zuerst müssen Sie mir bitte eines verraten.“
„Was?“
Nun stand er auf und trat einen Schritt auf mich zu. Ich hatte die Größe seiner Gestalt ganz vergessen. Seine Zunge schob sich in seine rechte Mundhälfte. Dutzende Male hatte ich in dieses Gesicht gestarrt, und ich konnte mich nicht erinnern, mich dabei auch nur einmal wohl gefühlt zu haben.
„Nennen Sie mir bitte den Code des Schließfaches. Und sagen Sie bitte nicht, Sie wüssten nicht, von wovon ich spreche. Oh ja, und wo sie gerade dabei sind, können Sie mir vielleicht noch verraten, was dieses kryptische Zeug hier auf diesem Waschzettel soll“.
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