Nach einer Sicherheitskontrolle, die ihren Namen nicht verdiente, gelangte ich in die Zone, die mich an Flughäfen immer fasziniert hatte: Die letzte nationale Bastion vor dem Abflug in die Ferne - im Bauch eines riesigen stählernen Vogels. He: Mad Soul.
Ich blickte in den heraufdämmernden Wintermorgen hinaus und sog schale, abgestandene Luft in meine schlaffen Lungen. Obwohl diverse Schilder den Zigarettenkonsum verboten, hing kalter Rauch in der muffigen Trostlosigkeit dieser französischen Exklave, was in mir einen gewissen Ekel hervorrief. Vor Jahren war ich selbst ein Jünger des blauen Dunstes gewesen - Gitanes Blondes ohne Filter, drei Schachteln am Tag waren keine Seltenheit. Besonders in der Zeit nach dem Tod von Tommy verkrampfte ich mich manisch in die Zylinder aus Papier und Tabak. Vielleicht hatte ich eines Tages damit aufgehört, um auch dieses Tau in meine Vergangenheit für immer zu kappen. Ich bin zu alt, um jung zu sein und zu jung, um alt zu sein.
Einmal mehr riss mich eine blecherne Lautsprecherstimme in die Gegenwart zurück: „Flug AF442 bereit zum Boarding.“ Außer mir traten noch etwa 50 Leute ihren Marsch in die Maschine gen Rio an – Strangers in the night. Der Flug würde sicher nicht ausgebucht sein. Als ich die silberne Boeing 777 betrat, musste ich wieder an Smehladou denken: Ob er auch die Daten dieses Flugzeuges in seinem wieselartigen Schädel gespeichert hatte? Vermutlich ja.
Die Maschine war tatsächlich nur halb gefüllt. Ich ließ mich ermattet in meinem Sitz nieder: 17A, Fensterplatz. Meinen Koffer schob ich unter den Vordersitz, immer in Sicht- und Griffweite. Obwohl bereits die ersten Sonnenstrahlen durch die kleine Plexiglas-Scheibe fielen und der Start der Maschine alles andere als sanft war, wurde ich wieder schläfrig. Gerade als mir die Augen zufallen wollten, kam die Durchsage des Flugkapitäns. Nach seinem dritten Satz war ich wieder hellwach und betete, mich verhört zu haben. „Guten Tag meine Damen und Herren. Als Kapitän möchte ich Sie im Namen der gesamten Crew auf dem Air France Flug AF442 nach Rio de Janeiro willkommen heißen. Mein Name ist Pierre Coqétait...“ Danach versagte kurzfristig mein Gehör. Dass mein altes Leben so plötzlich wieder über mich hereinbrechen würde, raubte mir den Atem und beinahe den Verstand. „Ist alles okay, Monsieur? Sie zittern ja am ganzen Körper und Sie sind so blass“, fragte mich eine Stewardess namens Betty, wie mir eine Stickerei auf ihrer Uniform verriet. „Wie? Ach das, das ist nur die Flugangst, passiert mir jedes Mal“, versuchte ich ihr zu erklären und quälte mich zu einem Lächeln, das wahrscheinlich so unnatürlich aussah wie die Perücke meines dicklichen Sitznachbarn. Leicht irritiert dreinblickend ging Betty weiter.
Schlagartig wurde mir bewusst, dass mein Leben vielleicht von einem Stück Pappe abhing. Einer Postkarte, die sich gerade auf den Weg nach Deutschland machte - während sich die Schatten der Vergangenheit mit immer brachialerer Gewalt in mein Leben und in meine Seele fraßen. Irgendwie fiel mir in diesem Zusammenhang der Titel eines deutschen Films von Rainer Werner Fassbinder ein, den ich mit Anfang 20 gesehen hatte: Angst essen Seele auf. Die Messer wurden bereits gewetzt.
Fortsetzung

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