Ich schob das Ticket bedacht in die Innentasche meines braunen Cordjackets, passte auf, dass es nicht knickte. Zu viel Hoffnung lag in diesem kleinen Stück Papier, als dass ich es hätte achtlos behandeln können. Noch einmal berührte ich die glatte Oberfläche, die nur durch die eingestanzte Kombination aus Buchstaben und Ziffern, die Flugnummer, unterbrochen war. Wie Berge ragten sie aus dieser kahlen Landschaft und symbolisierten förmlich meine Erwartungen. Noch einmal ließ ich die Finger über den Karton streifen. AF442. Eine Syntax, zwei Semantiken. In der Terminologie des Flughafens tat sich hinter dieser Nummer eine ganze Welt auf: Systematik, Ordnung, Piloten, Flugbegleiter, Kerosin, Gepäck. In meiner Welt war sie nur eines: Ein Synonym für Freiheit. Aber hatte ich genau diesen Gedanken nicht auch die letzten Male? Hatte ich nicht immer mit einem Aufbruch auch einen Neuanfang assoziiert und war dann kläglich gescheitert, immer in der Hoffnung, dass es endlich besser würde? Hatte ich nicht jedes Mal beim Start des Flugzeugs aus dem Fenster geschaut, meine Sorgen auf einen Punkt projiziert – auf ein Gebäude, auf einen See oder auf ein Blumenfeld – und ihn so lang fixiert, bis er so klein wurde, dass ich ihn nicht mehr sah? Habe ich jemals wirklich geglaubt, dass meine Sorgen einfach so aus meinem Leben verschwinden würden? Wie oft musste ich noch weglaufen, bis ich mir die Flucht vor mir selbst eingestehen würde?
Doch Rio wird anders, redete ich mir ein. Ein letztes Mal. Dann wird alles gut. Mein Blick fiel auf meinen Koffer. Mit den Gedanken war ich augenblicklich beim Umschlag, der immer noch sicher unter dem Futter verborgen lag. Tat er das wirklich? Ich verspürte ein wahnsinniges Verlangen den Koffer erneut zu öffnen, erneut unter das Futter zu greifen und mich zu versichern. Wie konnte ich sicher sein, dass dieser Smehladou nicht in einem unbeobachteten Moment... „Monsieur, ist alles in Ordnung mit Ihnen“, hörte ich die müde Stimme vom Schalter sagen und bemerkte, dass ich noch immer mit meinen Fingern rhythmisch über das Ticket in meiner Innentasche rieb. Mein Gesicht verzerrte sich und ich brauchte einen Moment, bis ich wieder einen klaren Gedanken fassen und antworten konnte. Ich begann meinen Satz mit einem nachdenklichen Räuspern und fragte, ob noch eine Bar geöffnet habe. „Leider nein, Monsieur, aber dort drüben ist der Wartesaal. Sie können sich noch einen Moment ausruhen.“
Ich ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen, öffnete die Tür zum Salle d'attente und blickte mich um. Es war ein länglicher Raum mit breiter Fensterfront, die einen großzügigen Blick auf das Rollfeld freigab. Links und rechts waren Ledersessel aufgestellt, an jedem zweiten stand ein kleiner Tisch. Der Raum war in der Mitte durch zwei Säulen geteilt, die von runden Bänken umschlossen waren. Hinten rechts im Raum kauerte ein Mann im schwarzen Anzug auf zwei Sesseln, die er zusammen geschoben hatte. Er schien zu schlafen. Vorsichtig stellte ich den Koffer auf den Boden. Leise ließ ich mich in einen der Sessel sinken, legte die Beine auf einen der Tische und meinen Kopf in den Nacken.
Welche Musik spielte im Taxi? Ich konnte es nicht sagen. Nur der Name hämmerte sich in meinen Kopf: Smehladou. Plötzlich erinnerte ich mich: Strangers in the Night. Ich sah Frank Sinatra vor mir, wie er charmant in das Mikrofon sang. Ich konnte die Musik förmlich hören. Der Mann gegenüber stand auf und tanzte, wirbelte taktlos und unkoordiniert zwischen den Säulen hindurch, drehte sich dreimal im Kreis und kam kurz vor mir zum Stehen. Er zeigte mit einem Finger auf mich und fing laut an zu lachen. Ich spürte von hinten eine Hand auf meiner Schulter, fuhr herum und blickte in Smehladous wahnsinnige Augen. Ich erschrak, fuhr aus dem Sessel und griff instinktiv nach meinem Koffer. Er war noch da. Sonst niemand. Leise schnarchte der Mann im schwarzen Anzug noch immer in der Ecke. Ich musste eingeschlafen sein. Wie konnte ich nur so unvorsichtig sein? In diesem Moment hasste ich mich selbst.
Smehladou. Dieser Name wollte nicht mehr aus meinen Kopf. Mein Verstand zerlegte ihn in einzelne Buchstaben und ordnete sie neu. Meine Begeisterung für Anagramme war schon immer grenzenlos gewesen, doch diesmal beunruhigte mich das Ergebnis: He: Mad Soul. Plötzlich war ich froh, dass die Taxifahrt vorbei war. Wie lang ich wohl geschlafen hatte? Ich konnte es nicht sagen. Draußen war es noch immer dunkel. Der Lautsprecher knarzte und die Stimme zauberte ein zögerliches Lächeln auf meine Lippen. Ich ging zum Gate. „Können Sie mir einen Gefallen tun?“, fragte ich die junge Dame, die mein Ticket kontrollierte, und drückte ihr eine Postkarte in die Hand, auf der eine deutsche Adresse stand. „Können Sie die bitte für mich einwerfen?“
An Zufälle glaubte ich schon lang nicht mehr. Die Wege schienen vorgezeichnet, lesbar in der Welt der Anagramme. Paris, Hilton. Elf Buchstaben. Elf Buchstaben standen auch auf der Karte: P.S.: Halt in Rio. Ein perfektes Anagramm. Das war mein Spiel, meine Hoffnung, meine Zukunft.

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