Donnerstag, 26. April 2007

Die Leichtigkeit von E5




Sollte es also wirklich so kommen? Es zu glauben viel mir wirklich schwer. Gabriela, die ich mal in einer Berliner Kneipe kennengelernt hatte, und die ihr Geld nebenher mit wildem Wahrsagen verdiente, hatte mir mal erzählt, im Spätherbst 2008 würde sich mein Leben ordnen. Nicht dass ich auch nur einen Cent auf solche Geschichten gegeben hätte, aber aus dem Kopf bekam ich die Spinnerei trotzdem nicht. Spätherbst 2008, das waren noch anderthalb Jahre, auf einmal zweifelte ich an meinem ganzen Unterfangen. Was wollte ich überhaupt hier in Rio, war ich vielleicht viel zu früh gekommen?

Obwohl ich wusste, dass Nostalgie nur selten der richtige Weg ist, tippten meine Finger fast automatisch: www.livetheworld.de. Mein alter Blog aus den guten, naja sagen wir den besseren Tagen. Ziellos klickte ich mich durch die Fotos aus Malaysia, Japan und Indonesien. Strahlende Sonne. Grinsende Gesichter. Von den Menschen und Gebäuden springt mich die Leichtigkeit des Lebens an. In diesen Fotos wohnt das Glück. Auf der anderen Seite der Welt. Tommy und Arese neben mir, hinter uns die untergehenden Sonne. Sowohl geographisch als auch emotional hätte ich nicht weiter entfernt sein können.

Das zieht mich ja doch nur runter, dachte ich und riss mich aus den Gedanken an die Vergangenheit. Alles ist immer Vergangenheit. Wenn die Zukunft uns doch nur so klar erscheinen könnte wie das, was schon war. Man wäre glücklicher. Wäre man glücklicher? Tommy hätte jetzt gesagt: „Mensch, Vergangenheit, Zukunft, du lebst jetzt, Junge, da musst du mal drauf klar kommen.“

Jetzt. Alles klar. 1-2-0-6-7-8. Irgendwas klingelte, wo hatte ich das schon mal gehört? Ich erinnerte mich nicht. Ich brauchte einen Plan, soviel war klar. Das Problem dabei war, dass, wenn immer ich mir einen zurecht legte, mein Leben meist exakt die Gegenrichtung genommen hatte. Vielleicht sollte ich planen, dass doch noch alles schief geht. War ich überhaupt in der Position, die nächsten Schritte zu bestimmen? Eigentlich war klar, was ich zu tun hatte. Ich musste das Schließfach suchen. Doch irgendetwas ließ mich zögern. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ich direkt in die Rua Cabrita gegangen wär und mir geholt hätte, was ich glaubte, verdient zu haben.

Ich gab dem Barkeeper im Café ein großzügiges Trinkgeld. Man kann sich nie genug Freunde schaffen, du brauchst sie immer irgendwann. Noch so eine Weisheit. Richte dein Leben nie an Weisheiten aus, das geht eh nur schief. Na herrlich. Auf der Straße erdrückte mich der stickige südamerikanische Nachmittag. Während ich durch die Straßen wandelte, tauchte aus meiner Erinnerung langsam wieder die Orientierung hoch. Es zog mich zu meinem alten Lieblingsplatz. Genau das richtige um den Kopf frei zu kriegen. Der „Playa de San Conrado“, gleich neben dem Strand von Ipanema, doch bei weitem nicht so überlaufen.

An der Straßenecke konnte ich nicht widerstehen und kaufte ich mir ein Pack Hollywood, die brasilianischen Zigaretten, die ich damals schon immer geraucht hatte. War es wirklich gut, in die alten Muster zu verfallen? Das hatte mich doch schon mal alles an den Abgrund geführt. Doch ich fühlte mich in Siegesstimmung.
Kurz kontrollierte ich, ob der Zettel, auf dem ich den Code notiert hatte, noch in meiner rechten Hosentasche steckte. Eigentlich hätte ich ihn wegschmeißen können. Diese Zahlen sollte ich nie wieder vergessen.
1-2-0-6-7-8. Wie zur Warnung schmerzte plötzlich die Narbe an meiner rechten Seite, 13 Zentimeter, vom Becken bis hoch zu den Rippen. Ich versuchte die Bilder an damals zu verdrängen. Das waren andere Zeiten. Jetzt war alles anders. War es das wirklich?

Der Sand fühlte sich gut an. Ich ließ mein Schritte schleifen, der Ort entfachte seine gewünschte Wirkung, ein Gefühl von Freiheit schlich von meinen Zehen hoch. Ich genoss das Wellenrauschen. Wie von einer fremden Hand geleitet zog es mich zu dem kleinen Plateau am Ende des Strandes, zu den Schachspielern.

Schach. Das Spiel beruhigte meinen Sinne. Auf dem Plateau waren einige kleine Tische aufgestellt, im Schatten der großen Palmen trafen sich vor allem Einheimische. 64 Felder, enge Grenzen, und gleichzeitig grenzenlose Freiheit. Das Schachspiel hatte es schon immer geschafft, meinen Kopf freizuschalten von der Schlacke des Alltags. A bis H, 1 bis 8. Hier war es sinnlos, nach weiteren Bedeutungen zu suchen. E5 war E5, nichts anderes. Für mich, der ich immer nach der zweiten Erklärung, dem Verborgenen im Offensichtlichen suchte, bedeutete dies einen wohligen Rückzug in die Eindeutigkeit.

Ich ging an einen Tisch, der recht wenig Zuschauer um sich geschart hatte. Später habe ich nie verstanden, wieso ich mich ausgerechnet hierzu gesellte. Ich suchte mir einen bequemen Schattenplatz, den Koffer stellte ich neben meinem rechte Fuß ab.

Die beiden Spieler hätten unterschiedlicher nicht sein können. Der eine, behaart wie ein Bär, das bunte Hemd tiefaufgeknöpft. Der Schweiß lief ihm herunter, das gestickte Taschentuch, mit dem er sich trocken zu halten versuchte, half nicht viel. Er konnte keine zehn Sekunden still sitzen, rutschte ständig von links nach rechts, kommentierte jeden Zug triumphierend (seine eigenen) beziehungsweise verächtlich (die des Gegners). Jedoch stand er klar auf Niederlage, die Partie konnte nicht mehr besonders lange dauern. Der designierte Gewinner, ein älterer Herr im weißen Leinenanzug, hockte stoisch vor dem Brett. Einen breitkrempigen Hut hatte er weit ins Gesicht gezogen, so dass ich sein Gesicht nicht erkennen konnte. Nichts bewegte sich an ihm, abgesehen von der rechten Hand, wenn sie, um einen Zug zu tätigen, in einer gemächlichen Bewegung nach hervor kam. Und dem Pendel in seiner Linken, ein kleiner silberner Gegenstand an einem seidenen Faden. Es war, als wolle er das Spiel beschwören, die Figuren zu seinen Gunsten betören.

Wenige Züge später setzte der Pendler den Bären Matt, dieser sprang mit einem Schnaufen auf, und zog leise schimpfend von dannen. Sein Gegenüber blieb sitzen, hielt den Kopf immer noch gesenkt. Ich konnte den Blick nicht von ihm wenden, kurz durchzuckte mich der Gedanke, dass ich diesen Mann kannte. Mit der rechten Hand glitt er in sein Jacket und holte etwas aus der Innentasche hervor. Eine Postkarte. Ich erkannte den Louvre auf der Karte und erstarrte.

Er blickte auf: „Wissen Sie, wo ich dies her habe?“, fragte er mir direkt ins Gesicht und platzierte die Karte mitten auf dem Schachbrett. Unsere Augen trafen sich. Wie war das möglich? „Ich habe Ihnen eine Frage gestellt.“ Vor mir saß Arlobo. Ich hatte ihn seit bestimmt 15 Jahren nicht mehr gesehen. „Ich habe Ihnen eine Frage gestellt“, wiederholte er.

Mein Mund wurde trocken, ich konnte nicht antworten. „Ich...“, fing ich an, doch meine Stimme versagte. Zu viele Fragen stoben durch meinen Kopf? Wie hatte Arlobo mich hier gefunden? Wie kam er an die Postkarte? Was war mit Isabel? Unmerklich hatte es sich um uns herum geleert, wir schienen allein zu sein auf dem Plateau.

„Trocken machen solche Übungen doch gar keinen Sinn“, ertönte eine zweite Stimme hinter meinem Rücken. Die Worte trafen mich wie einen weiteren Nackenschlag. Einer von Tommys Paradesprüchen. Zögernd drehte ich mich um. Hinter mir stand, feixend über das ganze Gesicht, Coqétait. In der einen Hand hielt er eine Flasche billigen Caipirinha aus dem Supermarkt.. Diebisch freute er sich über den augenscheinlichen Schrecken in meinen Augen. In der anderen Hand hielt er meinen Koffer.

„Alter Freund, schön dich zu sehen“, prostete er mir zu, und nahm eine tiefen Schluck aus der Flasche, „hey, was guckst du so verdeppert, Arlobo hat dir eine Frage gestellt, und du weißt, dass er nicht gerne lange auf Antworten wartet.“

Ich drehte mich wieder um. „ Ich..., ich meine, wie..., woher haben sie diese Karte?“

„Das habe ich Sie doch eben gerade gefragt“, brummte Arlobo. Er hatte wenig an seiner Haltung geändert, saß immer noch zusammengesunken vor dem Schachbrett, „aber ich sage es Ihnen. Doch zuerst müssen Sie mir bitte eines verraten.“

„Was?“

Nun stand er auf und trat einen Schritt auf mich zu. Ich hatte die Größe seiner Gestalt ganz vergessen. Seine Zunge schob sich in seine rechte Mundhälfte. Dutzende Male hatte ich in dieses Gesicht gestarrt, und ich konnte mich nicht erinnern, mich dabei auch nur einmal wohl gefühlt zu haben.

„Nennen Sie mir bitte den Code des Schließfaches. Und sagen Sie bitte nicht, Sie wüssten nicht, von wovon ich spreche. Oh ja, und wo sie gerade dabei sind, können Sie mir vielleicht noch verraten, was dieses kryptische Zeug hier auf diesem Waschzettel soll“.



Fortsetzung

Dienstag, 10. April 2007

Buchstabensuppe


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Nun also Pierre Coqétait. Der Mann mit den tausend Namen und der unverwechselbaren Stimme. Als wir uns zuletzt begegneten, nannte er sich noch Pedro Gallocierto. Ein kleiner, aufgeblasener Gockel – schon immer eingebildeter, als es der gallische Hahn war. Ich starrte auf das blau-rote Logo der Air France, welches als Stickerei das Kopfdeckchen in der Sitzreihe vor mir zierte. Was haben die sich dabei gedacht, Pierre Coqétait einzustellen? Mit Sicherheit hatten sie seine Unterlagen nich
t sorgfältig geprüft. Zu gerne hätte ich gewusst, wie Coqétait die Lücke in seinem Lebenslauf kaschiert hatte. Wir waren uns im April 1987 begegnet, zu dieser Zeit steuerte Pierre, der nach seiner Ausbildung bei Air France das Abenteuer suchte, eine propellergetriebene Cessna über die Sümpfe des Pantanal.

Eine Recherchereise hatte mich in dieses unwirtliche Gebiet verschlagen. Mit an Bord war eine junge, sehr talentierte Fotografin aus China, Frau Lou. Nach sechs strapaziösen Tagen passierten wir die bolivianische Grenze, was damals ein heikles Unterfangen war. Die Region wurde von der Drogenguerilla kontrolliert, die sich häufig Gefechte mit der Militärpolizei von Präsident Víctor Paz Estenssoro lieferte. Es gelang uns, Kontakt zu den Guerillos zu knüpfen. Menschlich fiel mir der Umgang schwer, mein Gewissen plagte mich, doch Coqétait hatte weniger Skrupel. Er verbrüderte sich mit den Anführern, zechte mit ihnen, lachte über ihre zotigen Witze und puderte sich die Nase mit Kokain. Doch dabei blieb es nicht, seine Gier war so groß wie seine Feigheit. Eines Nachts stürmte die Militärpolizei unser Lager, erschoss die drei wachhabenden Guerillos und überraschte die übrigen im Schlaf. Auch wir wurden unsanft festgenommen, doch ich machte mir zunächst keine Sorgen. Das änderte sich, als die Militärs unsere Cessna durchsuchten und aus Frau Lous Fototasche zwei Kilo Kokain zutage förderten.

Coqétait musste sie dort versteckt haben, um sie in Brasilien zu Geld zu machen. Er selbst trug nur zehn Gramm bei sich. Bei mir konnten die Beamten nichts finden, trotzdem wurde auch ich behandelt wie ein Schwerverbrecher. Ein Militärgericht verurteilte uns, ohne uns das Recht auf Verteidigung einzuräumen, zu Haftstrafen im berüchtigten Gefängnisdorf Palmasola. Ein Jahr sollte ich dort einsitzen, Coqétait bekam vier Jahre und Frau Lou wurde zu 25 Jahren verurteilt. Ich hatte es meinen glänzenden Kontakten und meinem deutschen Pass zu verdanken, dass ich nach zwei Monaten unter Mördern, Vergewaltigern und Drogenhändlern freikam. Frau Lou konnte nicht auf Gnade hoffen, zu erdrückend schienen die Beweise und zu wenig kümmerten sich die chinesischen Diplomaten um ihr Schicksal. Trotz all meiner Bemühungen. Ihr Leben schien nicht mehr wert zu sein als das eines Hundes. Sie saß immer noch in Palmasola, Coqétait am Steuer einer Boeing 777. Angst essen Seele auf. Wut essen Seele auf.

Ich hielt die Enden der Armlehnen krampfhaft umklammert und meine Knöchel traten weiß hervor, als mich ein Geräusch an meine Umwelt erinnerte. Ich löste meinen Blick von dem Kopfdeckchen der Air France und sah zu meinem Sitznachbarn, den ich als Lärmquelle ausmachte. Er war in seinem Sitz zusammengesunken, der Sicherheitsgurt hatte sein speckiges Hemd nach oben geschoben und gab den Blick auf einen teigigen Bauch frei, der sich rhythmisch hob und wieder senkte. Sein Mund war umrandet von dunkelblonden Barthaaren in denen Marmeladenreste klebten. Die Lippen vibrierten bei jedem Atemzug und erzeugten ein Geräusch, das mich, angespannt wie ich war, langsam aber sicher in den Wahnsinn trieb. Einem lang gezogenen aaaaaaaaahhh beim einatmen folgte ein nicht minder langes, pfeifendes güüüüüüüüüü während die Luft entwich. Immer wieder. Aaaaaaaaah – Pause – güüüüüüü. Ich versuchte meine Aggression abzubauen, indem ich immer wieder gegen meinen Koffer trat, der unter dem Vordersitz lag. Es half nicht, ich konnte mich nicht mehr länger unter Kontrolle halten.

Als Betty mit ihrem festgefrorenen Lächeln durch die Reihen ging und Kaffee anbot, beugte ich mich in Richtung Gang und ließ mir eine Plastiktasse mit der dampfenden, braunen Flüssigkeit füllen, die man über den Wolken als Kaffee bezeichnet. Während ich vorgab, die gut gefüllte Tasse vorsichtig zurückzubalancieren, kippte ich meinem Nachbarn einen kleinen Schwall in den Schritt seiner grauen Leinenhose. Der schreckte mit einem lauten Grunzen hoch. „Scheiße, das tut mir leid“, fluchte ich auf Deutsch – in der festen Überzeugung, es mit einem Franzosen zu tun zu haben, der kein Wort verstand. „Nu, so passen se’ doch mal uff“ antwortete der Kerl zu meinem Entsetzen in breitem Sächsisch. Dann verzog er die Lippen zu einer Art Lächeln, das gelbliche Zähne freilegte, die ungeordnet aus blutrotem Zahnfleisch ragten. Er schien eher erfreut als verärgert zu sein. „Das mit der Hose is’ nisch so schlimm, früher hatten wir ja nisch ma rischtigen Kaffee“, sächselte er weiter. „Ich komme für die Reinigung auf“, entgegnete ich matt. „Nischt dass ich es nötisch hätte, isch bin freier Künstler“, erwiderte er, „aber isch schreib ihnen mal meine Bankverbindung uff“. Er notierte die Daten auf der Rückseite einer Visitenkarte und reichte sie mir.


Tobias Kleistler

M. A.

Saxophonist

+49171 346 55 31


Saxophonist. War nicht auch ich ein Künstler? Ich hielt es mit Alexandre Kojève und ging den Weg des Künstlers, der alle Lebensprobleme in ein Spiel mit Formen übersetzt. Meist in ein Spiel mit Buchstaben. „Ich melde mich bei Ihnen“, sagte ich ergeben zu Herrn Kleistler und steckte die Karte in die Innentasche meines Jacketts, wo meine Finger einmal mehr über den gezackten Rand der abgerissenen Bordkarte fuhren. Rio. Meine Wut war einer tiefen Müdigkeit gewichen. Kleistler wuchtete sich aus dem für ihn viel zu schmalen Sitz und hinkte in Richtung Toilette. Er schien Knieprobleme zu haben. Kein Wunder, bei dem Übergewicht. Ich nutzte die Gunst des Augenblicks um meinen Koffer auf den Nebensitz zu hieven und ließ die Scharniere aufschnappen. Reflexartig strich ich an einer ganz bestimmten Stelle über das samtige Futter. Dann legte ich meine Trenchcoat zusammen und verstaute ihn unter einem Stapel Zeitschriften. Aus meinem Kulturbeutel fingerte ich ein Tablettenröhrchen und meine graue Schlafmaske. Als der Koffer wieder an seinem Platz unter dem Sitz war kreuzte ich die Füße darauf, legte mir eine Schlaftablette auf die Zunge und spülte sie mit lauwarmem Kaffee die Kehle hinunter. Dann schob ich mir die Schlafmaske vor die Augen und blendete die Umwelt aus. Es war an der Zeit, zur Ruhe zu kommen. Wie schwache Schatten geisterten Smehladou, Coqétait und Frau Lou durch meinen Kopf, dann umfing mich gnädig die Dunkelheit.

Rio de Janeiro empfing mich mit gleißendem Licht. Gegen 15.30 Uhr trat ich aus dem Gebäude des Aeroporto Internacional und sog die warme Sommerluft in meine Lungen. Mein Cordjackett hatte ich gegen ein leichtes,weißes Hemd getauscht, das sanft meine bleiche Haut umspielte. Da war ich also, zurück auf brasilianischem Boden. Ich spürte Übermut in mir aufsteigen, wischte ihn jedoch mit den Gedanken an das beiseite, was da kommen würde. Ich dachte an die Postkarte auf dem Weg nach Deutschland, die den Louvre zeigte und für mich wertvoller war als alle Kunstwerke, die dort ausgestellt sind. Morgen müsste sie ankommen. Bis dahin konnte ich nicht viel mehr tun als auszuruhen und mich an den brasilianischen Sommer zu gewöhnen. Ein Thermometer am Flughafengebäude zeigte 32 Grad, das Hemd klebte inzwischen auf meiner Haut. Ich winkte ein Taxi herbei und gab dem jungen Fahrer die Anweisung, mich in die Rua Paula Matos zu fahren, worauf dieser freundlich lächelte. „Aber auf dem direkten Weg, ich bin kein Tourist“, fügte ich an und sein Lächeln erstarb etwas. Während wir uns langsam in Richtung Stadtzentrum bewegten dachte ich wieder über die Postkarte nach. Ob Isabel die Botschaft wohl verstehen würde?


Liebe Isabel, ich trauere mit dir um Ana. Gramm-

ophon kannst du behalten, sie hing sehr daran,

nun soll es dir gehören. Vielleicht hilft es dir in deiner Trauer. De-

utschland habe ich verlassen, aber wir werden uns wiedersehen.

Lass bald von dir hören!

F. K.

P.S.: Halt in Rio


Isabel würde verstehen, sie kann zwischen den Zeilen lesen. In der Rua Paula Matos angekommen, drückte ich dem Fahrer 25 Real in die Hand und wandte mich dem Hotel Buzios zu. Nach kurzer Verhandlung mit dem Portier bezog ich Zimmer 21 im zweiten Stock des schmuddeligen Gebäudes, für 40 Real pro Nacht. Ich ließ mich auf die durchgelegene Matratze fallen, die auf einem metallenen Gestell inmitten des Zimmers ruhte. Am Fußende befand sich ein Kleiderschrank aus dunklem Holz, rechts daneben, auf einem kleinen Balkon, stand ein quadratischer Tisch mit einem Klappstuhl davor. Über mir drehte sich träge und leicht quietschend ein weißer Ventilator. Nachdem ich etwa zwanzig Minuten gelegen hatte ging ich wieder auf die Straße, betrat einen kleinen Supermarkt und kaufte acht Flaschen Cerveja Antarctica. In der Rua do Senado erstand ich bei einer Straßenverkäuferin einige Empanadas die sie mir in eine grüne Plastiktüte packte.

Zurück in meinem Zimmer ließ ich das Waschbecken mit kaltem Wasser volllaufen und legte das Bier hinein. Eine Flasche öffnete ich, nahm einen großen Schluck und genoss die prickelnde Kühle. Dann setzte ich mich mit meinem Notizblock auf den Balkon. Ich trank, beobachtete den lärmenden Verkehr auf der Straße und schrieb mit Bleistift scheinbar planlos Begriffe auf. He: mad soul. Kleistler. Ipanema. Tommy Dest. Ich unterstrich einzelne Buchstaben, doch mir wollte kein Anagramm in den Sinn kommen. Hoffentlich würde Isabel ihre Sache gut machen. Als es dämmerte übermannte mich wieder die Müdigkeit, das brasilianische Bier und der Jetlag machten meine Lider schwer. Ich legte ich mich auf die alte Matratze und starrte an die Decke. Der Ventilator verwandelte sich langsam in den Propeller der Cessna, die über das Pantanal hinwegzog.

Am nächsten Tag erwachte ich erst gegen Mittag, als auf der Straße ein Auto mit quietschenden Reifen zum stehen kam. Ich duschte ausgiebig und trat danach vor den Spiegel. Kritisch beäugte ich mein Gesicht, die Augen, die tief in ihren Höhlen lagen und die grau melierten Bartstoppeln. Die kleine Narbe an der linken Wange. Ich griff zum Rasierer und legte einen Menschen frei, den ich lange nicht mehr gesehen hatte. Ich kam mir mindestens fünf Jahre jünger vor. Nachdem ich im Erdgeschoss ein ebenso einfaches wie einsames Frühstück eingenommen hatte, setzte ich mich wieder auf den kleinen Balkon. Ich dachte an die junge Frau am Flughafen in Paris, der ich die Karte in die Hand gedrückt hatte. Sie arbeitete dort und würde von dem kleinen Postschalter in Terminal B gewusst haben. Ich malte mir aus, wie sie nach ihrem Dienst dort vorbeiging und die Karte aufgab. Ob sie sie wohl gelesen hatte? Selbst wenn sie Deutsch könnte, würde sie nur verwundert den Kopf geschüttelt haben. Isabel musste die Botschaft einfach verstehen. Ich blickte auf die Uhr: 13.18 Uhr. In Deutschland war es bereits nach sieben. Wenn die Karte noch gestern per Luftpost nach Deutschland gegangen war, könnte sie heute schon angekommen sein. Ich wurde unruhig und beschloss, einen ersten Versuch zu starten.

Mit meinem Notizblock unter dem Arm und dem Bleistift hinter dem rechten Ohr rüstete ich mich zum Aufbruch. Als mein Blick von der klapprigen Pressspantür auf den alten Lederkoffer fiel, beschlich mich ein ungutes Gefühl bei dem Gedanken, ihn und sein Geheimnis hier zurückzulassen. Kurzentschlossen nahm ich ihn mit und begab mich durch das schummrige Treppenhaus, vorbei an einem dösenden Portier, ins Freie. Die Straßen waren zur Mittagszeit nicht sehr belebt, die Mittagshitze verbrachten die Cariocas lieber im Schatten. Schnell fand ich einen kleinen Laden, der sich mit einem Pappschild im Schaufenster als Internetcafe auswies. Ich bezahlte drei Real für eine Stunde im Voraus und setzte mich an einen Rechner. Der Computer war alt, das Bild auf dem kleinen Monitor flimmerte ein wenig und die grauen Tasten waren klebrig und abgegriffen. Mit zittrigen Händen tippte ich eine deutsche Domain ein: www.trauer.de. Der Bildschirm wurde schwarz, eine kleine Sanduhr zehrte an meinen Nerven während sich langsam das Bild aufbaute. Ich klickte auf den Button Trauerfälle und begann die Todesanzeigen zu durchforsten. Aufmerksam studierte ich die Namen der Verblichenen. Alender, Alezzi, Berinoglu – Namen aus sämtlichen Kulturkreisen, im Tode friedlich nebeneinander. Ich wusste nicht recht, wonach ich suchen sollte und doch erregte ein Name meine Aufmerksamkeit. Ana F. Bicot. Ich öffnete die Anzeige und begann zu lesen.


Ana F. Bicot

† 12.06.78


Am Tage unseres Todes öffnet sich

das Tor zu einer besseren Welt.


In Liebe und Dankbarkeit


Richard und Anne

Uwe mit Stefanie

Annika und Familie


Claus

Arno

Britta

Rolf

Isabel

Tanja

Alessa


Irgend etwas stimmte nicht. Ana F. Bicot war bereits 1978 gestorben. Die übrigen Toten hatten alle erst kürzlich das Zeitliche gesegnet. Ana… war Isabel auf meinen Gedanken angesprungen? Ich zückte meinen Bleistift und schrieb den Namen in Druckschrift auf meinen Block. Die Buchstaben wanderten in meinem Kopf umher und sortierten sich neu. Banco Fiat. Ein Geldinstitut, das vor einigen Jahren von der Banco Itaú gekauft worden war. Alleine in Rio gab es über hundert Filialen. Ich betrachtete die Namen der Trauernden genauer, las von oben nach unten. Richard, Uwe, Annika… RUA. Die Anfangsbuchstaben. RUA CABRITA! Dort war früher eine Filiale der Banco Fiat gewesen. Am Tage unseres Todes öffnet sich das Tor… das Tor? Das Schließfach! Ein Safe mit Zahlenkombination. Ich notierte mir die Ziffern 1-2-0-6-7-8, unterstrich sie mehrmals und lies den Bleistift aus meinen verschwitzten Fingern rollen. Vielleicht war Tommy doch nicht umsonst gestorben.


Fortsetzung

Donnerstag, 5. April 2007

Angst essen Seele auf

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Nach einer Sicherheitskontrolle, die ihren Namen nicht verdiente, gelangte ich in die Zone, die mich an Flughäfen immer fasziniert hatte: Die letzte nationale Bastion vor dem Abflug in die Ferne - im Bauch eines riesigen stählernen Vogels. He: Mad Soul.

Ich blickte in den heraufdämmernden Wintermorgen hinaus und sog schale, abgestandene Luft in meine schlaffen Lungen. Obwohl diverse Schilder den Zigarettenkonsum verboten, hing kalter Rauch in der muffigen Trostlosigkeit dieser französischen Exklave, was in mir einen gewissen Ekel hervorrief. Vor Jahren war ich selbst ein Jünger des blauen Dunstes gewesen - Gitanes Blondes ohne Filter, drei Schachteln am Tag waren keine Seltenheit. Besonders in der Zeit nach dem Tod von Tommy verkrampfte ich mich manisch in die Zylinder aus Papier und Tabak. Vielleicht hatte ich eines Tages damit aufgehört, um auch dieses Tau in meine Vergangenheit für immer zu kappen. Ich bin zu alt, um jung zu sein und zu jung, um alt zu sein.

Einmal mehr riss mich eine blecherne Lautsprecherstimme in die Gegenwart zurück: „Flug AF442 bereit zum Boarding.“ Außer mir traten noch etwa 50 Leute ihren Marsch in die Maschine gen Rio an – Strangers in the night. Der Flug würde sicher nicht ausgebucht sein. Als ich die silberne Boeing 777 betrat, musste ich wieder an Smehladou denken: Ob er auch die Daten dieses Flugzeuges in seinem wieselartigen Schädel gespeichert hatte? Vermutlich ja.

Die Maschine war tatsächlich nur halb gefüllt. Ich ließ mich ermattet in meinem Sitz nieder: 17A, Fensterplatz. Meinen Koffer schob ich unter den Vordersitz, immer in Sicht- und Griffweite. Obwohl bereits die ersten Sonnenstrahlen durch die kleine Plexiglas-Scheibe fielen und der Start der Maschine alles andere als sanft war, wurde ich wieder schläfrig. Gerade als mir die Augen zufallen wollten, kam die Durchsage des Flugkapitäns. Nach seinem dritten Satz war ich wieder hellwach und betete, mich verhört zu haben. „Guten Tag meine Damen und Herren. Als Kapitän möchte ich Sie im Namen der gesamten Crew auf dem Air France Flug AF442 nach Rio de Janeiro willkommen heißen. Mein Name ist Pierre Coqétait...“ Danach versagte kurzfristig mein Gehör. Dass mein altes Leben so plötzlich wieder über mich hereinbrechen würde, raubte mir den Atem und beinahe den Verstand. „Ist alles okay, Monsieur? Sie zittern ja am ganzen Körper und Sie sind so blass“, fragte mich eine Stewardess namens Betty, wie mir eine Stickerei auf ihrer Uniform verriet. „Wie? Ach das, das ist nur die Flugangst, passiert mir jedes Mal“, versuchte ich ihr zu erklären und quälte mich zu einem Lächeln, das wahrscheinlich so unnatürlich aussah wie die Perücke meines dicklichen Sitznachbarn. Leicht irritiert dreinblickend ging Betty weiter.

Schlagartig wurde mir bewusst, dass mein Leben vielleicht von einem Stück Pappe abhing. Einer Postkarte, die sich gerade auf den Weg nach Deutschland machte - während sich die Schatten der Vergangenheit mit immer brachialerer Gewalt in mein Leben und in meine Seele fraßen. Irgendwie fiel mir in diesem Zusammenhang der Titel eines deutschen Films von Rainer Werner Fassbinder ein, den ich mit Anfang 20 gesehen hatte: Angst essen Seele auf. Die Messer wurden bereits gewetzt.


Fortsetzung

He: Mad Soul

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Ich schob das Ticket bedacht in die Innentasche meines braunen Cordjackets, passte auf, dass es nicht knickte. Zu viel Hoffnung lag in diesem kleinen Stück Papier, als dass ich es hätte achtlos behandeln können. Noch einmal berührte ich die glatte Oberfläche, die nur durch die eingestanzte Kombination aus Buchstaben und Ziffern, die Flugnummer, unterbrochen war. Wie Berge ragten sie aus dieser kahlen Landschaft und symbolisierten förmlich meine Erwartungen. Noch einmal ließ ich die Finger über den Karton streifen. AF442. Eine Syntax, zwei Semantiken. In der Terminologie des Flughafens tat sich hinter dieser Nummer eine ganze Welt auf: Systematik, Ordnung, Piloten, Flugbegleiter, Kerosin, Gepäck. In meiner Welt war sie nur eines: Ein Synonym für Freiheit. Aber hatte ich genau diesen Gedanken nicht auch die letzten Male? Hatte ich nicht immer mit einem Aufbruch auch einen Neuanfang assoziiert und war dann kläglich gescheitert, immer in der Hoffnung, dass es endlich besser würde? Hatte ich nicht jedes Mal beim Start des Flugzeugs aus dem Fenster geschaut, meine Sorgen auf einen Punkt projiziert – auf ein Gebäude, auf einen See oder auf ein Blumenfeld – und ihn so lang fixiert, bis er so klein wurde, dass ich ihn nicht mehr sah? Habe ich jemals wirklich geglaubt, dass meine Sorgen einfach so aus meinem Leben verschwinden würden? Wie oft musste ich noch weglaufen, bis ich mir die Flucht vor mir selbst eingestehen würde?


Doch Rio wird anders, redete ich mir ein. Ein letztes Mal. Dann wird alles gut. Mein Blick fiel auf meinen Koffer. Mit den Gedanken war ich augenblicklich beim Umschlag, der immer noch sicher unter dem Futter verborgen lag. Tat er das wirklich? Ich verspürte ein wahnsinniges Verlangen den Koffer erneut zu öffnen, erneut unter das Futter zu greifen und mich zu versichern. Wie konnte ich sicher sein, dass dieser Smehladou nicht in einem unbeobachteten Moment... „Monsieur, ist alles in Ordnung mit Ihnen“, hörte ich die müde Stimme vom Schalter sagen und bemerkte, dass ich noch immer mit meinen Fingern rhythmisch über das Ticket in meiner Innentasche rieb. Mein Gesicht verzerrte sich und ich brauchte einen Moment, bis ich wieder einen klaren Gedanken fassen und antworten konnte. Ich begann meinen Satz mit einem nachdenklichen Räuspern und fragte, ob noch eine Bar geöffnet habe. „Leider nein, Monsieur, aber dort drüben ist der Wartesaal. Sie können sich noch einen Moment ausruhen.“


Ich ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen, öffnete die Tür zum Salle d'attente und blickte mich um. Es war ein länglicher Raum mit breiter Fensterfront, die einen großzügigen Blick auf das Rollfeld freigab. Links und rechts waren Ledersessel aufgestellt, an jedem zweiten stand ein kleiner Tisch. Der Raum war in der Mitte durch zwei Säulen geteilt, die von runden Bänken umschlossen waren. Hinten rechts im Raum kauerte ein Mann im schwarzen Anzug auf zwei Sesseln, die er zusammen geschoben hatte. Er schien zu schlafen. Vorsichtig stellte ich den Koffer auf den Boden. Leise ließ ich mich in einen der Sessel sinken, legte die Beine auf einen der Tische und meinen Kopf in den Nacken.


Welche Musik spielte im Taxi? Ich konnte es nicht sagen. Nur der Name hämmerte sich in meinen Kopf: Smehladou. Plötzlich erinnerte ich mich: Strangers in the Night. Ich sah Frank Sinatra vor mir, wie er charmant in das Mikrofon sang. Ich konnte die Musik förmlich hören. Der Mann gegenüber stand auf und tanzte, wirbelte taktlos und unkoordiniert zwischen den Säulen hindurch, drehte sich dreimal im Kreis und kam kurz vor mir zum Stehen. Er zeigte mit einem Finger auf mich und fing laut an zu lachen. Ich spürte von hinten eine Hand auf meiner Schulter, fuhr herum und blickte in Smehladous wahnsinnige Augen. Ich erschrak, fuhr aus dem Sessel und griff instinktiv nach meinem Koffer. Er war noch da. Sonst niemand. Leise schnarchte der Mann im schwarzen Anzug noch immer in der Ecke. Ich musste eingeschlafen sein. Wie konnte ich nur so unvorsichtig sein? In diesem Moment hasste ich mich selbst.


Smehladou. Dieser Name wollte nicht mehr aus meinen Kopf. Mein Verstand zerlegte ihn in einzelne Buchstaben und ordnete sie neu. Meine Begeisterung für Anagramme war schon immer grenzenlos gewesen, doch diesmal beunruhigte mich das Ergebnis: He: Mad Soul. Plötzlich war ich froh, dass die Taxifahrt vorbei war. Wie lang ich wohl geschlafen hatte? Ich konnte es nicht sagen. Draußen war es noch immer dunkel. Der Lautsprecher knarzte und die Stimme zauberte ein zögerliches Lächeln auf meine Lippen. Ich ging zum Gate. „Können Sie mir einen Gefallen tun?“, fragte ich die junge Dame, die mein Ticket kontrollierte, und drückte ihr eine Postkarte in die Hand, auf der eine deutsche Adresse stand. „Können Sie die bitte für mich einwerfen?“


An Zufälle glaubte ich schon lang nicht mehr. Die Wege schienen vorgezeichnet, lesbar in der Welt der Anagramme. Paris, Hilton. Elf Buchstaben. Elf Buchstaben standen auch auf der Karte: P.S.: Halt in Rio. Ein perfektes Anagramm. Das war mein Spiel, meine Hoffnung, meine Zukunft.


Fortsetzung


Dienstag, 3. April 2007

Rien ne va plus

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Die kalte Luft schmerzte in meiner Lunge, als ich durch die von nächtlicher Melancholie erfüllten Verkehrsadern der Metropole lief. Tagsüber chronisch verstopft, lagen sie nun weit und leer vor mir. Auch meine Adern waren durch den Alkohol geweitet, doch in mir pulsierte das Leben, welches in der Stadt für ein paar Stunden erstorben schien. Der Whisky, ein Lagavulin von der Isle of Islay, kam mir wieder in den Sinn. Achtzehn Jahre hatte er in einem Eichenfass geruht, um in mir die Erinnerung zu wecken. Während er auf einer abgeschiedenen Insel reifte, kräftiger und wertvoller wurde, war mir die Zeit durch die Finger geronnen. Und mit ihr mein Glück.


Es muss im Herbst 1989 gewesen sein, als ein grobschlächtiger Mann mit wettergegerbtem Gesicht in seiner schottischen Heimat ein altes, beschlagenes Eichenfass in den Lagerkeller rollte. So stellte ich es mir vor. In aller Ruhe fuhr er mit der Hand über das warme Holz, zufrieden, fernab vom Pulsschlag der Weltgeschichte, der in diesen Wochen in Berlin schlug. Die Mauer fiel und Millionen berauschter Menschen, die nicht nach morgen fragten, lagen sich in den Armen vor Glück. Wie bei einer Kernfusion prallten Menschen aus Ost und West aufeinander und setzten eine ungeheure Energie frei. Berlin leuchtete, die Stadt wurde zum Eldorado für Glücksritter, so auch für mich. Doch ich kam nicht freiwillig. Ich musste fliehen, den Strand von Ipanema habe ich nie mehr gesehen.


Meinen Gedanken an vergangene Tage nachhängend, lief ich die Rue Chambronne entlang in eine ungewisse Zukunft. Ein ausgedehnter Fluch holte mich zurück in die Gegenwart. Es war fast vier Uhr. Am Straßenrand stand ein Taxifahrer über die Windschutzscheibe seines dunkelblauen Peugeot 405 gebeugt, der seine besten Tage – wie ich – längst hinter sich hatte. Der Mann versuchte mit der Rückseite eines schäbigen Kamms den hart gefrorenen Schnee von der Scheibe zu kratzen. Einem Impuls folgend sprach ich ihn an: „Fahren Sie mich zum Bahnhof, Gare du Nord.“ Er fuhr herum und ich bereute augenblicklich, ihn angesprochen zu haben. Den Kopf leicht schräg haltend fixierte er mich mit einem Blick, der zwischen Schüchternheit und Wahnsinn schwankte. Nach einer Sekunden währenden Ewigkeit bedeutete er mir mit einem Nicken, einzusteigen.


Die Polster im Fond rochen nach altem Frittenfett. Ich hielt den Atem an, der Mann ließ den Motor aufjaulen und bog in die Rue Lecourbe ein. Mein Blick fiel auf seinen Dienstausweis am Taxameter in der Mittelkonsole. Olivier Smehladou. Draußen zogen die Schatten der verdunkelten Häuser vorbei, nur in einer Boulangerie brannte bereits Licht. Als wir uns dem Bahnhof näherten erwachte Smehladou aus seiner Lethargie. „Es sind noch 400 Meter zum Bahnhof, wollen sie aussteigen? Das Taxameter steht bei zehn Euro, das ist eine schöne runde Summe.“ Meinen verwunderten Blick ertrug er regungslos. „Nein Olivier, fahren Sie mich hin und warten Sie dort.“ Er rümpfte die Nase, trat aber auf Gas.


Im Bahnhof herrschte Ruhe, nur meine Schritte hallten durch das Gebäude als ich auf die Schließfächer zusteuerte. In dem schummrigen Licht, das eine surrende Neonröhre am Gangende warf, brauchte ich einige Zeit, bis ich Nummer 237 fand. Kurz darauf stand mein alter Lederkoffer vor mir. Ich ließ die Scharniere schnappen und fuhr mit der Hand unter das Futter um nach dem Umschlag zu tasten. Er war noch da. Und mit ihm ein Funken Hoffnung. Gut, dass ich gar nicht erst in ein Hotel eingecheckt hatte. Da stand ich, den Whisky im Blut, die Vergangenheit im Kopf und dem Koffer in der Hand. Als ich zum Taxi zurückkehrte und meinen Koffer verstaute, trat Smehladou neben mich. „Fünf Minuten und siebenunddreißig Sekunden, macht zwei Euro und sechzig Cent.“ Ich vergaß mich zu wundern. „Olivier, fahren sie mich zum Flughafen Charles de Gaulle.“


Als Smehladou uns in Richtung Autobahnring steuerte, begann er von Flugzeugen zu schwärmen. Also doch, jeder Mensch hat eine Leidenschaft. Der A 380 hatte es ihm angetan. „853 Passagiere und 79,80 Meter Spannweite, mon Dieu!“ Ich lächelte verächtlich. Dieses Flugzeug war nur ein weiterer großkotziger Menschheitstraum. War nicht hier, in Paris, einer dieser Träume, die Concorde, in einem Feuerball zerschellt? Am Fenster flogen die tristen Vorstädte vorbei. Der Wartesaal der Träume vom bürgerlichen Glück. Mitten in der Einflugschneise. Ob Smehladou Träume hegte? Er wirkte nicht so. Als er den Wagen vor dem Terminal E zum stehen brachte, presste er hervor: „Dreiundvierzig Euro und achtzig Cent.“ Ich steckte ihm einen Fünfziger zu. „Eine schöne, runde Summe“, sagte ich beim aussteigen. Ich stieß die Wagentür zu und Olivier Smehladou verschwand aus meinem Leben.


Mein Herz schlug einen Trommelwirbel als ich den Flughafen betrat. Ich war bereit für das Roulette meines Lebens, das große Spiel, und trat an den Schalter der Air France. „Ich will mit der nächsten Maschine nach Rio de Janeiro.“ Die blonde Mittdreißigerin hinter dem Schalter blickte mich aus müden Augen an, die einmal sehr schön gewesen sein mussten, bevor sie sich die Nächte im Schichtdienst um die Ohren schlug. „Der nächste Flug nach Rio geht um sieben Uhr dreißig. Ihre Papiere bitte.“ Kurz darauf lag ein Ticket für den Flug AF442 vor mir.


Mein Einsatz war hoch. Die Kugel rollte. Rien ne va plus.


Fortsetzung